von

Susi Kerschbaumer und Titus Mwangi im Doppelinterview


Kategorien Allgemein, interview

DSC04432

Susi Kerschbaumer ist Beraterin für Organisationsentwicklung, Lobbying und Anwaltschaft in Nairobi, Kenia. Bereits zwischen 1996 und 1999 betreute die Kommunikationswissenschaftlerin ehrenamtlich in ihren Sommerferien Straßenkinder in Nairobi. 1999 gründete sie gemeinsam mit anderen die Mathare Children`s Fund, Inc. (USA) sowie 2001 die österreichische panairobi in Salzburg. Zuletzt war sie bei der Organisation AMREF in Kenya und Äthiopien tätig und referierte daneben an der TU Wien den Workshop „Building in South Africa“. Titus Mwangi ist Teamleiter bei Mathare Children’s Fund Panairobi (MCFP) für die er seit 2001 tätig ist. Er graduierte in Social Development Studies und verfügt über ein Diplom in Project Management und Counseling Psychology. Vor MCFP arbeitete er einige Jahre als Sozialarbeiter im St. Benedict’s Children’s Programme, in und um Mathare bei verschiedenen Sozialprojekten und im Norden Kenias im Community Development.


Im Doppelinterview kommen unsere ProjektmitarbeiterInnen und deren Counterparts (lokaler Kollege in der Partnerorganisation) zu Wort.


Susi, du engagierst dich seit deiner Jugend aktiv in der Entwicklungszusammenarbeit. Was hat sich gewandelt?

Susi: Vor 20 Jahren hat man noch von Entwicklungshilfe gesprochen. Es ging ums Helfen. Leider hat „helfen“ oft einen sehr passiven Ansatz, da der, dem geholfen wird, oft nicht viel zu sagen hat. In Ländern wie Kenia wurden Schulen, Brunnen, Krankenhäuser gebaut ohne die Bevölkerung oder die Regierungen miteinzubeziehen. Viele dieser Projekte haben Erfolge erzielt, viele jedoch auch nicht. Es wurde viel kritisiert von Seiten der Spender, der Organisationen, der „Entwicklungshelfer“ aber auch von Regierungen, und ich denke, das hat zu einem Perspektivenwechsel innerhalb der „Entwicklungshilfe“ geführt. Nun spricht man von Partnerschaften, Partizipation, Wissenstransfer und von der „Zusammenarbeit“ zwischen Nord und Süd.

Neue Kommunikationstechnologien haben auch zu einem besseren Dialog und zu mehr Verständnis auf beiden Seiten geführt. Noch vor 15 Jahren konnte man nicht einfach per Email von Wien nach Nairobi nachfragen, ob man eine Problemstellung richtig verstanden hat. Selbst innerhalb Kenias war die Kommunikation schwierig. Dank verbesserter Kommunikation zwischen Ländern und Regionen entsteht ein besseres Verständnis, Respekt und in Folge erfolgreiche Projekte.

Wenn die Menschen im Süden von den „Helfern“ des Nordens so lange bevormundet wurden, dann hat sich ja eine gewisse Rollenverteilung festgesetzt: Hier die wissenden Macher, dort die hilflosen Empfänger. Wie brichst du diese Rollen auf? Wie bringst du eine Bäuerin in Kenia dazu, dass sie dir auf Augenhöhe begegnet?

In dem ich ihr klar zu verstehen gebe, dass sie es ist, die das Potenzial hat, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Ich kann in beratender Funktion Unterstützung leisten, Veränderungsprozesse begleiten und neue Ideen und meine Expertise einbringen, die aber dann gemeinsam auf die jeweiligen Situationen angepasst werden müssen. Unsere Arbeit hier besteht viel aus Diskussion und Dialog, und sobald mein Counterpart versteht, dass wir uns gegenseitig brauchen bzw. unser Wissen, unsere Expertise und Erfahrungen benötigen, um eine positive und langfristige Veränderung herbei zu führen, fühlen sie sich auch ernst genommen, respektiert und auf gleicher Augenhöhe.

Ich habe mit Titus, deinem Counterpart, über Zweifel gesprochen. Hast du nie Zweifel an dem, was du tust?

Susi: Natürlich zweifle ich. Regelmäßig. Ich frage mich sehr oft, ob ich überhaupt das Recht habe hier zu sein, mich „einzumischen“ in Probleme, die ich eigentlich als „Ausländer“ nie wirklich verstehen werde. Und umso länger ich auf diesem Kontinent arbeite, umso weniger verstehe ich. Somit, ja ich zweifle: Sehe ich die Probleme richtig? Habe ich richtig verstanden? Darf ich mich einmischen? Kann ich Zeitdruck machen, wenn doch das Zeitverständnis ein so anderes ist? Darf ich mich über bestimmte Gegebenheiten aufregen, wenn ich doch nur Gast in diesem Land bin? Wie sehr muss ich mich anpassen, und was nützt unsere Arbeit, wenn Regierungen und die privilegierte Bevölkerung sich durch korrupte Geschäfte bereichern und die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird? … Und dann, im großen Ganzen: Nach Jahrzehnten von Entwicklungshilfe bzw. -zusammenarbeit, was hat sich verändert? Haben wir nicht eine neue Kultur des „Handaufhaltens“ geschaffen? Arbeiten wir wirklich mit den jeweiligen Regierungen zusammen oder nehmen wir ihnen nur die Verantwortung ab? Kommt das Geld wirklich dort an, wo es ankommen soll, oder finanzieren sich die jeweiligen Organisationen nur selber?

Und wie gehst du mit deinen Zweifeln um?

Susi: Ich versuche kritisch und offen zu bleiben, mit meinem eigenen Handeln und auch mit dem Sektor der Entwicklungszusammenarbeit. Ich hatte die letzten zehn Jahre das große Glück, gute Kollegen in den Partnerorganisationen zu finden, die ebenfalls sehr kritisch waren, die „Hilfe“ nicht selbstverständlich annehmen und sie auch hinterfragen. Und wenn man solche Kollegen hat, die auch wirklich was verändern wollen, die denselben Zorn auf eine ignorante Gesellschaft mit sich tragen und um Gleichberechtigung, Armutsbekämpfung, Friedenssicherung und und und kämpfen, dann entstehen in der Regel wunderbare Projekte, die einen daran erinnern, warum man trotz Zweifel weiter machen sollte.

 Titus, was geht dir durch den Kopf, wenn du am Morgen aufwachst?

Titus: Es gehen mir einige Dinge durch den Kopf. Vor allem was meine Arbeit betrifft. So erlebe ich Glück, wenn ich positive Veränderungen bewirken kann. Zum Beispiel, wenn ein junger Mensch nach seinem erfolgreich abgeschlossenen Studium anruft um sich dafür zu bedanken, dass unser Projekt ihm das erst ermöglicht hat. Erfüllung fühle ich, wenn ich mich zu jenen Menschen zählen darf, die die Welt Schritt für Schritt besser machen. Aber es kommen auch Fragen auf: Was für einen Unterschied kann ich heute in Mathare bewirken? Hat es Sinn, was ich tue, oder ist es eine Verschwendung von Zeit und Energie?

Du beschreibst Momente des Glücks, äußerst aber auch Zweifel. Was muss sich in der Gesellschaft ändern, damit du deine Zweifel verlierst?

Titus: Zweifel ist wie ein zweischneidiges Schwert – ob es positiv oder negativ ist, hängt vom Blickwinkel und von den Lebensumständen ab. Grundsätzlich finde ich, Zweifeln muss erlaubt sein. Zweifel können zur Klärung von Fakten drängen und können daher eines der intelligentesten Werkzeuge der Gesellschaft sein, wenn du dich darin übst. Zweifel muss dich zu Kritik und Wissen führen. Auf der anderen Seite kann Zweifel dich erstarren lassen und deinen Zug aufs Ziel schwächen.

Was muss sich in meiner Gesellschaft verändern, dass sich meine Zweifel über sie verringern? Sie müsste erkennen, dass Veränderung notwendig ist. Meine Gesellschaft wählt den leichten Weg, was oft drastische Konsequenzen mit sich bringt. Dieser Weg ist sehr egoistisch. Dahinter steht ein Fatalismus: Die Zukunft zählt nicht, schon der nächste Tag nicht. Wir kümmern uns nicht darum, wie die Zukunft unserer Kinder aussehen soll, solange wir nur gut gefüttert sind, ein großes Auto fahren und mehr verdienen als unser Nachbar. Wir sind nicht mehr geerdet, wir haben den Boden unter den Füßen verloren. Unsere Werte??? Wir haben keine mehr. Selbst wenn wir welche haben wollten, wer sollte sie uns geben? Unsere Politiker? Unsere feine Gesellschaft? Unsere reichen Eliten? Unsere Priester, die nicht vor Vergewaltigung zurückschrecken? Unsere pädophilen Lehrer? Väter, die fortwährend ihre Kinder missbrauchen??? Es muss sich viel verändern.

Mein Mantra ist, dass ich die Zweifel, die ich gegenüber meiner Gesellschaft habe, anerkennen muss (als Teil der Gesellschaft), aber keine Energie in sie stecke. Stattdessen muss ich vorwärts gehen und das tun, was richtig ist (Hier könnte man jetzt die Frage stellen, was denn überhaupt richtig sei!). Ein Spruch aus dem Zen sagt: „Großer Zweifel: Großes Erwachen. Kleiner Zweifel: Kleines Erwachen. Kein Zweifel: Kein Erwachen.“ Ich bevorzuge Zweifel zu haben, denn nur damit gibt es für mich auch Erwachen und Erkenntnis. Für meine Gesellschaft ist Veränderung unabwendbar, daher sollten wir die bestimmenden Faktoren sein, wie sich unsere Gesellschaft in Zukunft verändern soll!

Du sagst, Zweifel sind notwendig für Veränderungen. Blickt man auf die Vielzahl unterschiedlicher Organisationen oder Gemeinschaften, so erkennt man verschiedene Wege, wie diese mit Zweifel umgehen. Am einen Ende – in egalitären Gemeinschaften – ist Zweifel und Kritik erwünscht (z. B. weil man sich dadurch verbessern will), am anderen Ende – in streng hierarchischen Gemeinschaften – ist Zweifel und Kritik nicht erlaubt, da das der Vorgesetzte oder Ältere als Angriff werten würde. Veränderung ist in diesem Fall schwierig. Wo zwischen diesen beiden Polen befindet sich die Mehrheit der Gesellschaft in Kenia? Oder gibt es darauf keine Antwort?

Titus: Kenia hat eine sehr interessante Gesellschaft. Ich bin kein Experte, um zu beurteilen, wo wir uns zwischen diesen beiden Extremen befinden, aber ich könnte mir vorstellen, dass wir sowohl an den Enden als auch an vielen Positionen mittendrinnen zu finden sind. Ich denke, die Beschaffenheit einer Gesellschaft wird stets von den Interessen der Eliten determiniert. Welche Machtspielchen auch immer gerade ausgetragen werden, am Ende zählt für die Eliten, wie sie von und durch die Gesellschaft profitieren.

Wir haben mehr als 40 ethnische Gruppen und je nachdem, an welcher Stelle sie stehen, bestimmt, wie sie mit Zweifel umgehen. Dort, wo Männer an der Spitze stehen, herrscht meistens Hierarchie und Zweifel werden nicht in Erwägung gezogen. Wenn dennoch jemand Zweifel äußert, dann werden die Führer alles versuchen, die Zweifel zu eliminieren, mit allen möglichen Mitteln wie Bestechung, Mord, Bürokratie, Gesetzen usw. Konkretes Beispiel der letzten Wochen sind die neuen geplanten Gesetze um die Pressefreiheit und die finanzielle Unterstützung der Zivilgesellschaft zu beschneiden. Die Regierung möchte unsere Medienszene kontrollieren, die innerhalb Afrikas eine der lebendigsten ist. Die Idee, wie sie die zivilgesellschaftlichen Organisationen unter ihre Kontrolle bringen, ist die geplante Beschränkung von finanzieller Unterstützung. So soll eine Organisation nur mehr 15 % ihres Budgets von Gebern aus dem Ausland erhalten dürfen. Dabei schafft es die Regierung nicht einmal selbst, ohne ausländisches Gebergeld auszukommen – so erhalten z. B. die Ministerien für Gesundheit und Verteidigung je 50 % ihres Budgets von ausländischen Gebern. Ich glaube, es ist bekannt, dass der Internationale Strafgerichtshof in Kenia ermittelt und was das mit gewissen Top-Politikern des Landes zu tun hat. Ich glaube, man kann sich auch vorstellen, woher die Ideen zu den erwähnten Gesetzen kommen.

Wir Kenianer werden seit 20 Jahren ermächtigt, Fragen zu stellen und Zweifel zu äußern, wo immer es notwendig erscheint. Aber die politische Elite bemerkt, dass sie unsere Zugehörigkeit zu den ethnische Gruppen instrumentalisieren kann und die Gruppen gegeneinander aufwiegeln kann, wenn es darum geht, die Wahrheit zu verschleiern und ihre Macht zu erhalten. Das Traurige daran ist, dass wir alle darauf reinfallen und vergessen, dass es nicht 40, sondern nur zwei Gruppen in diesem Land gibt: die Reichen und die Armen. Es ist leider so, dass die Reichen nicht am Wohl der Armen interessiert sind, sondern nur daran, schnelles Geld zu machen, egal mit welchen Mitteln.

Ich will an etwas anknüpfen, was du vorhin gesagt hast, nämlich, dass die Menschen selbst bestimmen sollten, wie die Gesellschaft sich ändern soll. Wie kann diese Veränderung eintreten und wie sollen die von dir vorhin angesprochenen neuen Werte in Kenia entstehen?

Titus: Soziale Veränderung ist ein schwer fassbares Konzept. Es ist unabwendbar und hängt vom Willen und dem Handeln der normalen Menschen ab. Es ist nicht ohne Ironie, dass wir zwar Veränderung herbeiwünschen, aber irgendetwas in uns sich heftig dagegen sträubt. Unsere Vorsätze und unser Handeln richten sich nach dem Bedürfnis, eine Veränderung herbeizuführen, aber wir verlieren uns darin stets … ich verstehe es nicht, irgendwie verlieren wir die nötige Energie dazu, speziell dann, wenn es zu politischen Veränderungen und zu einer Veränderung, wie wir denken, kommt. Veränderung als Konzept ist mehrdeutig und es ist daher schwer festzustellen, wie sie entstehen soll. Die Ursachen, der Prozess und die Wirkung von Veränderung sind nicht dasselbe. Wie sollen wir das also messen können? Wann weiß man, dass eine Veränderung gerade stattgefunden hat? Veränderung passiert auf vielen Ebenen – kulturellen, sozialen, institutionellen und individuellen – und es ist schwierig, Trennlinien zu ziehen. Manchmal entsteht Veränderung spontan auf mehreren Ebenen gleichzeitig.

Kenia und Veränderung … ich glaube, Kenia braucht etwas, was im Mittleren Osten vor sich ging, in gewisser Weise eine Revolution. Wir Menschen in Kenia sollten nicht danach bemessen werden, welcher Volksgruppe wir angehören, sondern als Bürger ernstgenommen werden. Das Schwierige daran ist, Kenia als Land aufrechtzuerhalten, während wir diese Veränderung durchleben. Ich wünsche Kenia keine Situation wie in Libyen oder Ägypten, aber es muss etwas passieren. Zu welchem Preis? Ich weiß es nicht. Zwischen Kenia und der Welt gibt es ein intensives Zusammenspiel. Dieses Zusammenspiel wird auch beeinflussen, was von unseren Werten und welche Veränderungen Bestand haben werden. Anthony F.C. Wallace schreibt in diesem Zusammenhang in „Culture and Personality“ von „a shift away from cultural harmony, a change that shows up first in the form of increased individual stress that are unable to meet certain cultural expectations. At first this is perceived by both the individual and the society at large as an individual problem. But as the number of these individual deviations grows, it begins to weaken the social fabric, eventually to the point where the society must acknowledge that the problem is more than personal…At this stage, it is difficult for the society to return to a state of equilibrium without undergoing a process of revitalization.“ Ich glaube, dass unsere Gesellschaft sich an diesem Punkt befindet und früher oder später Veränderungen stattfinden werden.

Welche Rolle spielt dabei die Personelle Entwicklungszusammenarbeit wie jene von HORIZONT3000?

Titus: Der Einsatz von Fachkräften schafft Transfer von Wissen und Expertise. Die Fachkräfte bringen Veränderung, positive Veränderung. Der interkulturelle Austausch verschiebt unsere Wahrnehmung, indem die Fachkräfte Dingen oder Handlungen einen Wert geben, denen wir davor nicht unbedingt einen Wert zugeschrieben hätten. Voraussetzung für einen sinnvollen Projekteinsatz ist, dass die Fachkräfte das Vertrauen in sich selbst haben, Veränderungen in der Organisation zu bewirken. Aber es braucht auch auf Seiten der Projektpartner ein Vertrauen in die Fähigkeiten der Fachkraft. Vor allem, wenn es darum geht Werte dahin zu verändern, dass sie internationalen Standards entsprechen.

Mitgliedsorganisationen